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Was sich im Film «Der Lauf der Dinge« von Peter Fischli & David Weiss ereignet, kann der Zuschauer Schritt für Schritt genau verfolgen. Es ist ein äusserst amüsanter naturalistischer Film über den Zusammenhang von Ursache und Wirkung.

Man begreift, dass das Wägelchen niemals umgekippt wäre, wenn das Feuer nicht lang genug gebrannt hätte, um eine ausreichende Menge der in ihm enthaltenen Flüssigkeit verdampfen zu lassen; und das Feuer wäre nicht entflammt, wenn die rollende Kugel nicht dafür gesorgt hätte, dass sich das Streichholz an der Reibfläche entzündete; und die Kugel wäre niemals ins Rollen gekommen, wenn nicht …

Es ist ein furchtbar aufregender Film. Was ist, wenn die Kugel nicht geradeaus läuft? Wenn der Ballon zu früh platzt? Was passiert dann? Es muss tagelange Vorbereitungen gekostet haben, bis alles richtig funktionierte. In einem Take! Mir kommt es jedenfalls so vor, als sei es ein einziger Take; ich kann mir nicht vorstellen, dass die Künstler die Aufnahme manipuliert haben – das hätte der Sache ihren ganzen Witz genommen. «Der Lauf der Dinge« ist aber auch eine verkehrte Komödie, ein negativer Slapstick.

Ein grosser Teil des Vergnügens, das die Filme mit Stan Laurel und Oliver Hardy bereiten, resultiert aus der Tatsache, dass alles so vorhersehbar ist. Wenn sie sich zusammen daranmachen, ein Segelboot anzustreichen, dann kann man davon ausgehen, dass Hardy früher oder später in einen Eimer voll Farbe treten und den Mastbaum gegen den Kopf bekommen wird. Und richtig, genau das passiert, und man sieht auch, wie es passiert. Bei Fischli & Weiss sieht man es nicht. Aber man kann sich vorstellen, wie oft etwas schief gelaufen ist. Noch im letzten Moment. Wie oft müssen Fischli & Weiss vor Ärger aus der Haut gefahren sein, weil irgend etwas wegen des relativ grossen Fehlerspielraums in den physikalischen oder chemischen Abläufen nicht so klappte, wie es sollte. Das Feuer geht aus oder die Kugel rollt zurück und wird vom Feuer zerstört. All diese Möglichkeiten ergeben einen unsichtbaren Film, der parallel zu dem Film abläuft, den wir sehen.

Was wir bei Fischli & Weiss zu sehen bekommen, ist zudem spannend wie ein Hitchcock. Was wird mit dem Beutel passieren? Wie wird die Konstruktion auf der rechten Seite auf das Bleigewicht reagieren, das über ihr an einem dünnen Faden hängt? Auch im Film von Fischli & Weiss sind Licht und Dunkelheit effektvoll eingesetzt. Er ist auch ohne Schauspieler hoch dramatisch.

Aber was geschieht denn nun wirklich? Reicht es nicht, die Ereignisse erzählt zu bekommen? (Eine Reihe von physikalischen und chemischen Gesetzen führen vom einen Ereignis zum anderen.) Müssen wir den Film sehen? Die Idee, die dahinter steckt, wird ziemlich schnell deutlich, und von da an kann man genauso sicher sein, dass nichts schief gehen wird, wie man sicher sein kann, dass Clint Eastwood nicht aus dem Hinterhalt heraus abgeknallt wird. Ist der Film also nicht eher uninteressant? Man kapiert, wie’s läuft, und damit hat es sich. Fischli & Weiss basteln sich etwas zusammen, an dem auch ein Kind seine Freude hätte, und dann filmen sie das Offensichtliche. Da sie das «Ereignis« auch anderen Leuten vorführen wollen, machen sie notgedrungen einen Film, um es zu dokumentieren.

Merkwürdigerweise scheint uns der Film immer wieder aufs Neue anzulocken. Wir wissen, was in einem Gangsterfilm, einem Liebesfilm oder einem Spionagefilm passiert, und dennoch schauen wir uns immer wieder solche Filme an. Der Pate und der Russe sterben, alles normalisiert sich wieder und kann wieder von vorn beginnen, und am Schluss kriegen sie sich. Wenn es ein Hollywoodfilm ist, gewinnen die Guten, wenn es ein europäischer Film ist, sind die Dinge ein bisschen komplizierter. Fischli & Weiss problematisieren diese Figur. Die Dramaturgie von «Der Lauf der Dinge« ist extrem vorhersagbar, aber dennoch so fesselnd, dass wir den Film bis zu Ende sehen müssen. Sobald sich auf dem Bildschirm oder der Leinwand etwas tut, entwickeln die Zuschauer Erwartungen. Wir wollen unterhalten und überrascht werden, vielleicht auch ein bisschen klüger. Und wir wollen wissen, wie es ausgeht. Der zeitliche Ablauf in einem normalen Spielfiim beinhaltet eine Menge Möglichkeiten: Der Held kann sich entschlieRen, ein Auto zu stehlen, um den Zug einzudolen, aber nicht einfach irgendein Auto, und er muss sicher sein, dass die Juwelen tatsächlich in dem Zug sind, und das kann er nicht wissen, solange er nicht mit der Frau gesprochen hat, der sie gebören und die einige Minuten zuvor den Bus in die andere Richtung genommen hat. Ist sie in die Sache verwickelt? Wenn er zu lange überlegt, kann alles zu spät sein.

In «Der Lauf der Dinge« kann es für nichts zu spät oder zu früh sein. Alles ereignet sich nur dann, wenn es sich ereignen kann. Es gibt keine Wahlmöglichkeit, keine Psychologie und streng genommen auch keinen Anfang und kein Ende. Der Film beschreibt eine Bewegung, die ewig zu sein behauptet. In Filmen, in denen der Plot nur eine geringe Rolle spielt oder die sogar ganz ohne auskommen, gewinnt stattdessen für gewöhnlich die Atmosphäre an Bedeutung. Die Form erlangt ein ebenso grosses Gewicht wie der Inhalt. Wichtig ist, wie und wann Dinge gesagt werden, wo der Film gedreht wird, wie der Regisseur entschieden hat, den Set auszuleuchten, die Szenen zu schneiden etc. Aber gibt es in dem Film von Fischli & Weiss überhaupt eine Atmosphäre? Beschreibt er nicht in Wirklichkeit auf absurd kompromisslose Weise eine tote Welt? Ein geschlossenes System. Ein System, das vollkommen unveränderlich ist, solange niemand von aussen eindringt. Es ist unmöglich, die unheimliche Konsequenz des Geschehens – den Lauf der Dinge zu beeinflussen, eine Konsequenz, die ein Grundzug der Natur zu sein scheint, eine natürliche Ordnung, die nur vom Chaos gestört werden kann.
Das Gute am Lauf der Dinge ist die Tatsache, dass es wirklich ein Film geworden ist, dass das Ereignis nicht aufhörte, ein Ereignis zu sein. Als entscheidende Struktur so vieler Filme ist dies ein die Natur der Kultur nur zu ihrem Vorteil störendes Chaos.

Per Engström

Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors, aus: Paletten, 1/96, Nr 224, pp. 59, 60

Übersetzung: Jürgen Blasius

© 2000 Kunstverlag Ingvild Goetz GmbH, Sammlung Goetz, Autoren, Künstler

plakat Kurzfilm, CH 1987, 30′, 16mm
 
Regie
Peter Fischli, David Weiss
 
Produktion
T&C Film Zürich
 
Weltvertrieb
T&C Edition Zürich